
Der hessische Landesparteitag in Schwalmstadt-Ziegenhain ist jetzt schon einige Wochen her. Ein wenig zeitliche Distanz erleichtert es, sachlicher auf die Ereignisse zu reagieren. Angeregt durch ein älteres Blogposting eines ehemaligen Amtsträgers und Nicht-mehr-Piraten erinnere ich mich an die Ereignisse im Vorfeld.
Wir hätten die Ozeane niemals verlassen dürfen
Wie sah es denn aus mit uns Piraten, vor der Bundestagswahl? Getrieben von strukturellen Notwendigkeiten der Organisation als Partei wählten wir ein Schiedsgericht, ließen die machen, die sich dafür interessierten. Das Ganze schien unwichtig zu sein, Verwaltungskram, fern der politischen Arbeit, wegen der – zumindest ich, damals noch als Freibeuter – bei den Piraten mitarbeitete. Das sollte sich als katastrophaler Fehler herausstellen: statt im Hintergrund eigentlich nicht gebraucht zu werden, wurde das Schiedsgericht zum Machtinstrument. Wer mit seinen Zielen nicht durchkam, rief es an. Und das Schiedsgericht urteilte.
Formal will ich hier die Urteile nicht kritisieren, das sollen Menschen mit fundierterem juristischen Wissen tun. Allerdings fiel auf, dass die Buchstaben des Gesetzes wichtiger zu sein schienen als der Geist des Gesetzes. Uns aufoktroyierte Strukturen wie das Parteiengesetz wirkten zerstörend auf solche, die wir uns selbst gegeben haben.
Natürlich muss man einem Gesetz genüge tun, zumindest der Form nach. Wenn aber nicht selbstbestimmte Strukturen wichtiger werden als selbst gegebene, dann läuft in einer basisdemokratischen Partei etwas schief.
Das Schiedsgericht entschied, die Nutzung des virtuellen Meinungsbild für verbindliche Positionen zu untersagen. Was bedeutete das für die Partei?
Nun, statt online mit breiter Basisbeteiligung politisch arbeiten zu können und diese Arbeit dann in Positionen fließen zu lassen, wurde die Basis zumindest in Nord- und Mittelhessen entmachtet.
Das klingt jetzt hart, aber schaut euch mal die Infrastruktur an: Menschen im Rhein-Main-Gebiet setzen sich in die S-Bahn und können sich nach Feierabend treffen, Geld kostet das meist nicht extra, da man ein Monatsticket hat. Menschen in Mittel- und Nordhessen müssen kilometerweit fahren, haben erhebliche Kosten und brauchen je nach Treffpunkt einen halben Arbeitstag. So kann keine Basisarbeit passieren, und so war die Partei gelähmt. Wir brauchen und wollen Online-Tools, wenn wir Basisdemokratie ernst meinen.
Die Bäume waren ein Holzweg
Ironischerweise war das dann die Situation im Wahlkampf zur Bundestagswahl 2013. Mit Verwaltungsfoo war die Partei handlungsunfähig geworden und dementsprechend schwach positioniert, trotz der unglaublichen Leistungen im Wahlkampf. Ich habe auf dem Parteitag Menschen getroffen, die komplette Landkreise plakatiert hatten, und die Kasseler “Botschaft von Neuland” war eine tolle Aktion. Honoriert wurde diese Arbeit – fast überall bekamen wir mehr Erststimmen als Zweitstimmen. Was will uns der Wähler damit sagen? Ganz einfach: es gibt tolle Leute, die wir hier vor Ort kennen, deren Arbeit wir schätzen. Aber als Partei können wir euch nicht ernst nehmen.
Klassischer Knieschuss. Die “Positionslosigkeit”, die durch das Fehlen des wichtigsten Entscheidungsmediums verursacht wurde, wurde dem Vorstand angelastet, die Lösung sollte heissen, politische Vorstände statt verwaltender. Dadurch sollte die Partei sich schärfer profilieren können. Aber ist dieses Profil dann unseres? Wie entsteht die Profilierung des Vorstandes? Wessen Interessen werden da vertreten?
Interessanterweise waren die, die die Kappung der Basistools rechtfertigten und verteidigten, die gleichen, die für einen Machtzuwachs des Vorstandes eintraten. Das bedeutet faktisch den Umbau einer basisdemokratischen Partei in eine Kaderpartei, die einzige Kontrolle sind dann die Vorstandswahlen. Den Rest des Jahres darf man hilflos dem Theater zusehen. Leute, hätte ich das gewollt, wäre ich in der SPD.
Rettung in letzter Minute
Diese Situation führte dazu, dass der Landesparteitag in Schwalmstadt-Ziegenhain für die, die noch nicht resigniert hatten und dem Projekt Piratenpartei noch eine Chance geben wollten, aktiv dagegen steuerten. Und wir schafften es, das Ruder herumzureissen. Die Vorstands- und Schiedsgerichtswahlen entwickelten sich zu einem Triumph derer, die keine Lust haben, sich bevormunden zu lassen, derer, für die Hessen nicht nur aus Frankfurt und Wiesbaden besteht, ein Sieg der Basisdemokratie.
Hiho,
Mehr Erst- als Zweitstimmen zu bekommen ist nur sehr bedingt ein Zeichen dafür, dass die Köpfe mehr als die Themen geschätzt werden. Wenn man nicht gerade zu eine Partei gehört, die massiv Zweistimmen “geliehen” bekommt, ergibt sich rein als der Anzahl der Wahlmöglichkeiten eine “besseres” Erst- als Zweitstimmenergebnis.
Christian
Es geht hier nicht um Köpfe statt Themen. Sondern darum, dass man den Köpfen die Themen zutraut, nicht aber der Partei. Und “taktische” Wähler wählen per Erststimme das kleinere Übel mit Chance, eventuell sogar gegen ihre politsche Linie. Die Erststimmen für Piraten sind Herzensstimmen.
Einspruch!
Ich war Wahlhelfer und habe viele Wahlzettel in der Hand gehabt – ich weis also, wovon ich rede…
Sehr oft gab es die Kombination Erststimme Pirat – Zweitstimme AfD oder gar NPD.
Für solche Wähler sind wir Protestpartei und bekommen die Erststimme nur, weil die anderen keinen Direktkandidaten aufgestellt haben.
Ich würde mir also nicht allzuviel auf die erreichten Erststimmen einbilden…
…vor allen Dingen sind sie kein Indikator für Köpfe statt Themen.
Beim Klabautermann!
Volker
Klare gerade Worte ohne Umschweife und ohne einzelne Personen zu beleidigen.
Inhaltlich stimme ich dem voll zu und das Du im letzten Satz Wiesbaden anstelle von Darmstadt geschrieben hast, ist sicherlich nur ein Mittel um eine gewisse Anonymisierung zu gewährleisten.
k-nut