Die Spaltung der Massen – wie die 1% gewinnen

Vom Verlust der Freiheit

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Die Welt wird enger statt weiter. Ein Schulkind hat heute einen Aktionsradius von 400m um das Elternhaus. Zwei Generationen zuvor waren es fast 10 km. Reisefreiheit wird reglementiert durch immer strengere und invasivere Kontrollen und Überwachung, Grenzzäune werden errichtet.

Die persönliche Freiheit von Menschen wird massiv eingeschränkt, sobald sie staatliche Unterstützung in Anspruch nehmen wollen. Dies trifft auf Menschen ohne Arbeitseinkommen genau so zu wie auf Geflüchtete – eine Residenzpflicht schränkt ihre Bewegungsfreiheit zusätzlich zu den fehlenden finanziellen Mitteln massivst ein. Begründet wird so etwas entweder mit Sicherheitserwägungen oder damit, der jahrelang nicht vorhandene Arbeitsplatz könne sich gerade dringend in dem Moment manifestieren, in dem mensch gerade mal lange nicht gesehene räumlich entfernte Verwandte oder Freunde besuchen möchte.

Ständige Verfügbarkeit – auf der anderen Seite der Medallie fordern Arbeitgeber oder auch das Selbstverständnis Selbstständiger die ständige Erreichbarkeit, legen elektronische Fussfesseln an und erwarten definierte Reaktionszeiten.

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Freitag abend spontan mit einer Flasche Wein ans Meer fahren, auch wenn es 400 km entfernt ist, entwickelt sich zum existenzgefährdenden Abenteuer, Spontanität scheitert am Omnipräsenzanspruch der eigenen Existenzsicherung. Eine gefeierte Poetry-Slam-Künstlerin empfindet es schon als gewagt oder zumindest besonders, nächtens auf dem Dach zu sitzen und Mond und Sterne zu betrachten. Morgens um drei nach einer durchgemachten Nacht Eier backen, auf einer gerade dastehenden Couch ohne Zähneputzen ein paar Stunden schlafen, das könnte ja die Planung der Zahnhygiene stören und möglicherweise irgendwann Folgekosten nach sich ziehen.

Feige sind wir geworden. Leben war immer lebensgefährlich. Leben heisst probieren, scheitern, hinfallen, aufstehen. lernen, weiter machen.

Spaltung

Illustration 3
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Angst lähmt. Angst ist ein schlechter Ratgeber, führt zu schlechten Entscheidungen. Angst bringt Betriebsräte und Gewerkschaften dazu, unter Schweiss und Blut erkämpfte Rechte aufzugeben, faulen Kompromissen zuzustimmen. Nur, um dann feststellen zu müssen, dass die Schraube noch weiter gedreht wird, dass das nächste sicher geglaubte Terrain gerade angegriffen wird. Die meisten unserer Gewerkschaftsfunktionäre sind entweder korrupt, verängstigt oder feige. Angst lässt zu, dass wir nicht mehr rational entscheiden.

Bildungsferne, Arme und Rechtlose werden gegeneinander aufgehetzt. Die Angst, als nächstes das zu verlieren, was man noch gerettet zu haben glaubt, sorgt für Abgrenzung nach unten statt für Solidarität. Menschen in schlechten Arbeitsverhältnissen sind stolz darauf, noch einen Job zu haben, obwohl er sie körperlich und seelisch kaputt macht. Sie schauen auf die herunter, die keinen haben, neiden ihnen die lumpige Unterstützung, für die sie ja nichts tun müssten. Arbeitslose achten dann wieder extrem darauf, dass andere Bedürftige aber weniger zu bekommen hätten, schließlich hätten sie es ja nicht verdient, hätten nichts dazu getan. Was einer braucht, um in Würde leben zu können, fällt dabei unter den Tisch. ein perfides System aus gegenseitiger Bespitzelung, Leibstrafen und gesellschaftlicher Ausgrenzung verhindert die Erkenntnis, dass alle in einem Boot sitzen und nur gemeinsam etwas für die Verbesserung ihrer Leben erreichen könnten.

dscf5134_500Wenig hilfreich sind die gebildeteren Schichten. Die einen profitieren vom System, schotten sich ab und verkehren in elitären Zirkeln, der untere Rand schaut mit Verachtung auf die, die herausgefallen sind. Die
Privilegierten dazwischen spalten sich in Subkulturen und Tribes, Männer gegen Frauen, Feminismus gegen Maskulismus, Hetero gegen Homo, Depression gegen Behinderung, Tradition gegen Fortschritt. Jeder, jedem und jedx ihre, seine, xpronomen Filterblase. Statt zusammen zu stehen und für bessere Lebensverhältnisse einzustehen, bekämpfen sich Mircrosubkulturen untereinander. Ich nenne das nach Monty Pythons “Leben des Brian” das “Volksfront-von-Judäa-Syndrom” – die Aufsplitterung eigentlich der gleichen Sache Verpflichteter, die dann in der Abspaltung den Feind sehen und dabei das gemeinsame Ziel aus den Augen verlieren.

dscf6960_500Schön zu sehen war das seit 2013, als nach dem Absturz der nur feigenblattliberalen FDP und dem Flügelstreit in der Piratenpartei überall neue (links)liberale Parteien gegründet wurden. Statt zu versuchen, eine demokratische Meinungsfindung zuzulassen, gemeinsame Ziele breit zu verwirklichen, wurden Kleinräume erschlossen. Hier mehr Soziales, dort mehr Wirtschaft – so findet sich für jedermensch die passende Geschmacksrichtung. Allein, schlagkräftige Politik wird nicht daraus, dazu braucht es Einigkeit und den Mut, auch innerparteilichen Dissenz auszuhalten. Das gemeinsame Ziel der Sicherung der Grund- und Bürgerrechte, welches man als Voraussetzung dafür sehen kann, die anderen Ziele überhaupt angehen zu können, trat völlig in den Hintergrund. Da sich aber alle gegenseitig bekämpfen, brauchen die, die nicht wollen, dass sich Dinge ändern, nur zuzuschauen, wie sich die Opposition gegenseitig zerlegt.

Ampelmann
Ampelmann

Ein weiteres Beispel ist die Kampagne gegen den US-Standort Rammstein, der im Drohnenkrieg im Nahen Osten eine maßgebliche Rolle spielt. Vor lauter Herumgeeiere, wer mit wem auf keinen Fall auf irgendeiner Demo gesehen werden will, kommt weder ein scharfes Profil des Protestes noch eine glaubwürdige Bewegung heraus. Wieder verpufft Energie, die sinnvoll eingesetzt die Situation ändern könnte.

Entsolidarisierung ist das große Thema dieses Jahrzehnts. Die Politik der vergangenen Jahre förderte Entsolidarisierung, Ab- und Ausgrenzung und Individualisierung. Um das zu ändern, müssen wir lernen, zusammen zu arbeiten, nicht gegeneinander. Wir müssen sinnvolle konsensfähige Ziele gemeinsam verfolgen, akzeptieren, dass wir uns nicht in jeder Detailfrage einig sind und gemeinsam dafür sorgen, dass wir uns morgen noch über die Dinge streiten können, über die wir uns nicht einig werden können. Dazu brauchen wir eine menschliche Diskurskultur, die durch Betonung des Gemeinsamen dafür sorgt, dass wir einander zuhören und nach Möglichkeiten der Zusammenarbeit suchen iund nicht nach Dissenz. Fahren wir fort, uns immer weiter zu zersplittern, werden wir machtlos bleiben und unfrei werden.